PRAGA CAPUT REGNI-PRAGA CAPUT MEDII

Prag kann nicht eine lineare Geschichte der alten/neuen Medien vorzeigen, aber um so mehr kann diese Stadt stolz auf einige Ereignisse sein, die eine besondere Bedeutung und Eigenart fuer die Geschichte der Medien darstellen. Die heute so modern klingenden Ausdruecke wie "Elektronische Kunst", "Virtuelle Realitaet", "Interaktive Kunst" und "Kuenstliche Intelligenz" finden sich wieder in vergangenen Zeiten, die bis ins Mittelalter zurueckgehen.Natuerlich hatten diese Phaenomene damals andere Namen. Diese Ereignisse, von denen ich hier sprechen moechte, sind nicht zufaellig passiert, sondern sie haben fast immer eine Beziehung zu der jeweiligen Zeit und zu dem jeweiligen Klima, in welchem sie geschahen. Nicht zuletzt ist es die besondere Energie dieser alten Stadt gewesen, die dazu beigetragen hat, dass es immer wieder Menschen gab, die das Interface zum Jenseits gesucht haben. Die Linguisten behaupten, dass der Name "Prag" vom tschechischen "prah" stammt, was nichts anderes als "Schwelle" bedeutet. Es gibt Orte in Prag, wo man oefter durch verschiedene optische Taeuschungen in den merkwuerdigen Zustand versetzt wird, als ob man sich in einer Zwischenwelt befaende. Es ist kein Zufall, dass Prag die einzige Stadt der Welt ist, wo es heute immer noch eine nicht kleine Gruppe von aktiven Surrealisten gibt. An der Spitze dieser Gruppe steht der Filmanimator Jan Svankmajer.

Im sechzehnten Jahrhundert lebte in Prag Juda Loew ben Bezalel, der als der Hohe Rabbi Loew beruehmt wurde. Er war ein grosser Gelehrter und Mystiker. Dieser Mann von enzyklopaedischem Wissen ist der geistige aber auch leibliche Urahn des grossen Mathematikers Theodor von Karman. Der sah in Rabbi Loew den ersten Genius der angewandten Mathematik. Wie wir wissen, wird Rabbi Loew nicht nur die Erfindung des Golems zugeschrieben. Seine Experimente mit der Camera obscura beeindruckten Kaiser Rudolf II. so sehr, dass er ihn in den Kreis der Alchimisten, Kuenstler und Astronomen, wie Johannes Keppler und Tycho de Brahe einlud. Ausserdem duerfen wir sagen, dass Rabbi Loew auch der geistige Urahn von zwei anderen grossen Mathematikern war- Johann von Neumann und Norbert Wiener -, die mehr als irgendjemand sonst die theoretischen Grundlagen zu jener mathematischen Magie gelegt haben, die den Golem unserer Tage, den modernen Computer, produziert hat. Letzten Endes ist der Golem nichts als eine Reproduktion von Adam, dem ersten Menschen selber - ein Wesen, das durch menschliche Intelligenz und Konzentration geschaffen ist, das zwar unter Kontrolle seines Schoepfers steht und Aufgaben erfuellt, die dieser ihm stellt, das aber zugleich eine gefaehrliche Neigung entwickeln kann, dieser Kontrolle zu entwachsen und zerstoererische Faehigkeiten zu entfalten - wie der Mensch selber.

Dass der alte und der neue Golem gleiche Grundkonzeptionen haben, steht ausser Frage. Der alte Golem beruhte auf einer mystischen Kombination der zweiundzwanzig Buchstaben des hebraeischen Alphabeths, die zugleich die Elemente und Bausteine der Welt sind. Der neue Golem beruht auf einem viel einfacheren und doch viel verwickelterem System. Statt zweiundzwanzig Elementen kennt er nur zwei: die beiden Zahlen Null und Eins, die das binaere Zahlensystem ausmachen. Beide Golem brauchen Energie, um in Gang gebracht zu werden. Beim alten Golem war es die Sprache, beim neuen Golem ist es die Elektrizitaet.Fest steht, dass beide Golems an Produktivitaet zunehmen koennen, und beide sind imstande, Information zu speichern. Heute nennt man dieses Phaenomen "kuenstliche Intelligenz".

Wenn wir heute von virtueller Realitaet sprechen, duerfen wir nicht unerwaehnt lassen, dass eines Tages Rudolf II. beschloss, das Haus von Rabbi Loew zu besuchen. In dieser Nacht vollbrachte der Rabbi ein Wunder: er verwandelte sein Haus in ein Schloss: er projizierte mit seiner Camera obscura Bilder vom Inneren des Hradschin auf die Waende seines Hauses. So entstand fuer Rudolf II. der Eindruck, er wuerde sich in einem Schloss befinden.

Im Jahr 1920 erscheint in Prag der Roman "R. U. R. (Rossum@\357s Universal Robots)" von Karel Capek, eines grossen Visionaers der modernen Gesellschaft. Den Ausdruck "Robot" leitete Capek vom tschechischen Slangwort "Robota" fuer "Fronarbeit" ab, was sich wiederum vom russischen "Rabota", "Arbeit", ableitet. Diese "Science-Nonfiction-Horror-Story" ist in erster Linie eine Warnung an die technologische Gesellschaft, dass sie im Begriff ist, sich selbst ins Verderben zu stuerzen. Auch Capeks Roboter gehoeren zur Golemfamilie. Diese Automaten bestehen nicht aus mechanischen und elektrischen Teilen, sondern aus einer Art Protoplasma. Im Gegensatz zum Golem von Rabbi Loew haben die Roboter erstaunliche Intelligenz und ein grosses Gedaechtnis. Sie kennen keine Schmerzen oder Gefuehle. Sicher ahnte Capek nicht, dass seine R. U. R.- Automaten, die er Roboter nannte, einen weltweit anerkannten Namen fuer kuenstliche Intelligenz abgeben wuerden.

Im Jahr 1940 erscheint in Prag das Buch "Der Kinetismus" von Zdenek Pesanek. Pesanek gehoert zu den Mitbegruendern der Licht- Kinetischen Kunst. Er baute komplexe Lichtkinetische Objekte, die auch auf oeffentlichen Plaetzen aufgestellt wurden. Sicher ist, dass Pesanek indirekte Kontakte zum Bauhaus hatte. Er bezieht sich unter anderem auf Berichte aus dem Bauhaus-Buch Nr. 3, 1927. Das Buch Kinetismus basiert, wie Pesanek selbst sagt, auf seinen Manuskripten der zwanziger Jahre. In diesen Manuskripten schreibt er zur Einfuehrung: "Wir erwarten ein Schwinden manueller Techniken der Malerei und Bildhauerei, den Einstieg in neue Methodiken und ihren Anschluss an hoechste Offenbarungen technischen Geistes." Weiter schreibt er: "Die Kuenstler von Morgen zeichnen heute das aufs Papier, was wir im Raum schweben sehen sollten, oder was auf den Himmel projiziert werden sollte." "... aber Ihr, denen mit dem Fortschreiten der Zeit die ganze Welt der Technik und der Zahlen in den Schoss gefallen ist, all die Zweige der Elektronik und verwandter Gebiete, Ihr schielt zu dem grossen Rembrandt hinueber und seid insgeheim eifersuechtig auf seinen fruchtbaren Ruhm. Ihr seid Euch darueber nicht bewusst, dass er uebertreffbar ist, da Eure Werkzeuge, die Ihr in Reichweite Eurer Haende habt, Euch dazu verhelfen koennen, Wunder zu tun. Ihr bemueht Euch, den Spuren alter Meister zu folgen, aber Ihr vergesst, dass sie es an Eure Stelle heute anders machen wuerden. Anders als sie es selbst haben tun koennen." Diese fast siebzig Jahre alten Thesen hoeren sich frischer an als manche Beitraege der Medientheoretiker heute.

Im Jahr 1958 wird im tschechoslowakischen Pavillon der Expo in Bruessel eine kleine Sensation praesentiert: die "Laterna Magica". Dem Filmregisseur Alfred Radok war es gelungen, das Interface zwischen Theater und Film zu kreieren. Auf der Theaterbuehne befanden sich viele Filmprojektionsflaechen verschiedenster Art. Die Akteure verschwanden etwa ploetzlich durch diese Flaechen und man sah sie sodann nur noch auf ihnen im Film. Dann wieder sprangen sie von ihnen auf die Buehne. Diese fliessende Bewegung, die zwischen der materiellen und der immateriellen Welt, das Hin und Her zwischen Realitaet und Traum, verzaubert bis heute viele Menschen in Prag.

Neun Jahre spaeter kommt waehrend der Expo in Montreal zu der abermals praesentierten "Laterna Magica" eine neue faszinierende Ueberraschung hinzu: "Der Kinoautomat", das erste interaktive Kino der Welt. Es wurde konzipiert von Cincera und Svitacek. Waehrend der Vorfuehrung wurde mehrmals der Film angehalten, und jemand, der auf die Buehne trat, fragte die Zuschauer, wie der Film weiter laufen sollte.Es wurden jeweils zwei Alternativen angeboten.An jedem Sitz in diesem speziell praeparierten Kinosaal befanden sich Tasten , sodass der Zuschauer durch den jeweiligen Tastendruck seinen Willen zum Ausdruck bringen konnte. Dann wurden die Stimmen gezaehlt und man liess die Filmversion laufen, fuer die sich die Mehrheit der Zuschauer entschieden hatte. Diese aktive Beteiligung am Filmgeschehen darf man als Meilenstein in der Geschichte der interaktiven Kunst betrachten. Der Kinoautomat fand seinen Platz nach der Expo auch in Prag, aber kurz nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts 1868 wurde dieses einmalige Unternehmen geschlossen. Vieleicht fuerchteten die damaligen Machthaber, dass durch die Erfahrung mit dem Kinoautomat das Demokratiebewusstsein geschaerft worden waere. Denn wie gesagt, man stimmte waehrend der Vorfuehrung nach demokratischen Prinzipien ab

In den siebziger und achtziger Jahren war es ziemlich ruhig um die Medien in Prag. Kurz vor der "Samt-Revolution" bildete sich eine Gruppe von Leuten, die sich "Videosalon" nannte. An ihrer Spitze stand der Maler und Filmanimator Radek Pilar. Hier war man auch der ruhmreichen Filmanimation des tschechischen Films verpflichtet, die gepraegt worden war etwa durch Jiri Trnka, Karel Zeman und Jan Svankmayer.

1991 wurde ich an die Prager Kunstakademie berufen, um eine Abteilung fuer Neue Medien zu gruenden und zu leiten. Nam June Paik hat eine nicht kleine Summe fuer die Ausruestung gespendet. Auch andere private Personen aus der BRD unterstuetzten dieses Projekt. Dank dem DAAD in Bonn wurde ueber mehrere Jahre eine Langzeitdozentur fuer meinen Lehrstuhl gesichert. Die Abteilung liegt in einer kubistisch gepraegten Villa. Die ersten Studenten reagierten sehr individuell in ihrer Anwendung der neuen Technologie. Von Video-Tapes ueber Video-Installationen, interaktive Videoskulpturen, Life-Videoperformances bis hin zur Kommunikationskunst gebrauchten sie die neue Technik in einer ernsten aber auch distanzierten Weise. Sie haben erste internationale Erfahrungen gemacht und auch Anerkennungen bekommen. Die Kommunikationsprojekte "I.P.I." waehrend der "Seagraph" in Chicago 1992 und die "Piazetta Prag" im Rahmen der "Piazza Virtuale" (Van Gogh TV) waehrend der "Dokumenta 1992" oder das Projekt "Electronic Cafe" (235-Media Koeln) sind fuer die Studierenden interessante aber auch fragwuerdige Erfahrngen. Vor zwei Jahren wurde das "Mediaarchiv" unter andrem von Woody Vasulka und Petr Vrana gegruendet. Die fuehrende Expertin der osteuropaeischen Medienszene heute ist die in Prag und Bukarest lebende japanische Publizistin und Organisatorin von "Special events", Keiko Sei, die sich in Osteuropa noch vor dem Fall der Mauer engagierte.

Robert Musil hat geschrieben: "Prag ist der Schnittpunkt" - das Interface - "der alten Weltachsen." Ich moechte hinzufuegen: Prag ist der Schnittpunkt/Interface zwischen Gestern und Morgen und gleichzeitig zwischen Jetzt und Nie.

Literatur: Gershom Scholem, Judaica 11, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970 Angelo Maria Ripellino, "Magisches Prag", Wunderlich, Tuebingen 1982 Zdenek Pesanek, "Kinetismus", Prag 1941

Das Buch "Kinetismus" wird in erstmaliger deutscher Uebersetzung im Herbst 1993 bei Merve, Berlin, erscheinen

Michael Bielicky