Die Ahnung eines Nicht-Darstellbaren

Mit diesen Worten beschreibt der franzoesische Philosoph Francois Lyotard die Antriebskraft in der Kunst, die nach dem Verlust des Glaubens an die Kraft der Ab-Bilder von der "Be-schreibung" zum Umschreiben, zur Deviation, zum Uebergang zur Technik der Found Footage und des Bildrecyclings in den heutigen Kuensten gefuehrt hat. Und er meint damit nichts anderes, als Viktor Sklovskij schon 1916 mit dem Begriff der Verfremdung vorweggenommen hat. Video kann als Metapher einer Welt, die im Verschwinden begriffen ist, gesehen werden, als Aufnahmegeraet einer Welt, die so, wie wir sie sehen und kennen, im naechsten Augenblick schon nicht mehr sein wird. Video als Ab-Bild des Ortes einer Gegenwart, die durch ihre zunehmende Geschwindigkeit immer ununterscheidbarer von Vergangenheit und Zukunft wird. Video als Einschnitt, als ein Innehalten und Abstandnehmen.

OSTranenie 93 ist das erste Videofestival in Europa, das den Schwerpunkt auf europaeische Videoproduktionen und Videoarbeiten legt, die sich mit den komplexen kuenstlerischen, kulturellen und politischen Realitaeten der sogenannten postsozialistischen Laender Ost- und Ostmitteleuropas auseinandersetzen.

OSTranenie 93 bringt Kuenstler, Strategien, kuenstlerische Ideen und Konzepte zusammen und wird vor allem den aktuellen Stand der Videokunst in Ost- und Ostmitteleuropa, in den Balkanlaendern und Russland praesentieren.

Der Name des Videofestivals leitet sich von dem Begriff "ostranenie" (russ. fuer 'Verfremdung') ab. Der Literatur- wissenschaftler Viktor Sklovskij - Vater der sogenannten russischen Formalisten - praegte diesen Begriff 1916 in seinem Aufsatz "Die Kunst als Verfahren". Dieser Begriff hat nichts von seiner Aktualitaet verloren. Sklovskij schreibt in seinem Aufsatz:

"... Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fuehlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wieder- erkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der "Verfremdung" (ostranenie) der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Laenge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlaengert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig...."

(Viktor Sklovskij, "Die Kunst als Verfahren"(1916), in: Striedter, Jurij, "Texte der russischen Formalisten", Bd. I, Muenchen 1969, S. 15)

Dieser Titel wurde von uns fuer das Videofestival gewaehlt, weil wir denken, dass in unserer heutigen Medien- und Informations- gesellschaft das "Sehen" gegenueber dem "Wiedererkennen" gefoerdert werden muss. Besonders durch das Fernsehen wird das "Wiedererkennen" propagiert: Das "Wiedererkennen" durch fluechtiges Hinschauen formt oberflaechliche und vage 'Realitaets(ab)bilder' im Kopf, die nicht mehr fuer etwas stehen, sondern die schnelle Einordnung des Wiedererkannten unter bestimmte Kategorien erleichtern und so die Aus-Sicht auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Materie verstellen. Das "Sehen" nun, das Sklovskij dem einfachen "Wiedererkennen" gegenueberstellt, kann die Kunst - und insbesondere die Kunst, die sich der gegenwaertigen Kommunikationsmittel und Medien bedient - durch die ihr eigenen Mittel ermoeglichen.

"... Ziel des Bildes ist nicht die Annaeherung seiner Bedeutung an unser Verstaendnis, sondern die Herstellung einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstandes, so dass er "gesehen" wird und nicht "wiedererkannt"..." (Sklovskij, a.a.O., S.25)

Die Unzufriedenheit mit den medialen Bildern, mit den von den Massenmedien endlos reproduzierten immergleichen "Takes", mit den ewig wiederkehrenden Stereotypen, die das Nahe so fern erscheinen lassen, trieb mich zu verschiedenen Reisen in die Welt hinter den Fernsehbildern, nach Warschau, in die drei unabhaengigen baltischen Staaten, nach Petersburg und nach Moskau. Dort fand ich (ein bisschen zu meiner Ueberraschung, wie ich zugeben muss) eine aeusserst lebendige Videoszene. Nicht erstaunlich fuer z.B. Polen, jedoch fuer die baltischen Staaten und Russland! Was ich dort in vielen Begegnungen mit VideokuenstlerInnen und OrganisatorInnen aber auch vorfand, war (und hier muss ich Polen ebenfalls ausklammern) eine "Angst, das Rad neu zu erfinden" - bedingt durch den noch immer als sehr stark empfundenen Mangel an Literatur und Informationen zur Entwicklung sowohl der Videokunst als auch der neueren Philosophie im westlichen Teil Europas. Diese Befuerchtung ist angesichts der eingereichten Arbeiten unbegruendet: wenn sie das Rad neu erfinden, so erfinden sie es anders. Bei den eingereichten Videos handelt es sich eher um "Entdeckungen der Langsamkeit", eher um ein Innehalten angesichts des "Verschwindens der Welt, wie wir sie sehen und kennen", als um eine reine Technikfaszination.

Wir haben ausdruecklich Wert darauf gelegt, OSTranenie 93 nicht als Wettbewerb im herkoemmlichen Sinne zu veranstalten, sondern vielmehr den fuenf von der internationalen Jury ausgewaehlten ost- bzw. ostmitteleuropaeische VideokuenstlerInnen durch ihre persoenliche Anwesenheit die Teilnahme am Festival und somit eine Praesentation weiterer Arbeiten zu ermoeglichen.

Die enorme Resonanz auf das Festival (es wurden ueber 170 Videoarbeiten und 40 Videoinstallationen und Performances eingereicht) zeugt von der Aktualitaet unseres Festivals. Erschuetterte Mythen? - Neue Realitaeten? Schon beim Versuch einer Definition von "Mythos" und "Realitaet" fangen die Kontroversen an. OSTranenie 93 ist europaweit das erste Videofestival, das den Schwerpunkt auf eine Praesentation aktueller osteuropaeischer Videoproduktionen legt. Seine Bedeutung kann genau in der schon erwaehnten "Entdeckung der Langsamkeit" eines anderen, osteuropaeischen Videos liegen, in der Entdeckung andersartiger und neuer Herangehensweisen an das Medium und die in ihm vermittelten Inhalte.

Ich hoffe, dass dieser Katalog auch Leute erreicht, die nicht persoenlich am Festival teilnehmen koennen und sie ermuntert, sich an mich zu wenden, damit in Zukunft dieser Ueberblick ueber Geschichte und gegenwaertige Tendenzen der Videokunst in Osteuropa komplettiert werden kann.

An dieser Stelle moechte ich dem Bauhaus Dessau, dem Kultusministerium Sachsen-Anhalt, dem Auswaertigen Amt, der Stiftung Kulturfonds und dem Brauhaus zu Dessau fuer ihre finanzielle und organisatorische Unterstuetzung des Festivals danken. Gedankt sei auch den Mitgliedern der Vorauswahlkommission (Werner Moeller, Dr. Elisabeth Tharandt, Musiolik, Ralph Boesten, Werner Mayer, Kai Hesse) fuer ihr mehrtaegiges ausdauerndes Videosichten; den Jurymitgliedern (Marina Grzinic, Michael Haller, Ryszard Kluszczynski, Keiko Sei, Stefan Tsvetkov) fuer ihre engagierte und konstruktive Arbeit; allen Autoren, die durch ihre Textbeitraege bzw. die Erlaubnis zum Abdruck ihrer Texte (besonders Dr. Rossen Milev und Dr. Ales Erjavec) den Katalog zu einem ersten Kompendium ueber Geschichte und Gegenwart der Videokunst in Osteuropa haben werden lassen; sowie vielen anderen Menschen, die mich waehrend der fast einjaehrigen Planung des Festivals unterstuetzt haben.

Ich hoffe, dass dieses Videofestival einen ersten Ansatz zu einer Weiterarbeit an den unterschiedlichen behandelten Themen bietet und wuensche allen Teilnehmern, Kuenstlern und Gaesten, dass diese "vier Tage im November" zu einem interessanten Ereignis werden.

Inke Arns Planung, Konzeption und Durchfuehrung von OSTranenie 93