Keiko Sei

SCHNELLDURCHLAUF MEINER TAGE MIT VIDEO IN OSTEUROPA

"Medienkunst in Osteuropa! Das ist doch ziemlich unbedeutend." - das ist der Kommentar, den ein Freund aeusserte, als ich mich 1987 entschloss, Japan zu verlassen und nach Osteuropa(*1) zu gehen, um dieses spezielle Gebiet zu untersuchen. Und das war zu der Zeit nicht die Meinung einer Minderheit.

Fuenf Jahre nach dem Wandel in Osteuropa scheint das Festival diese Frage wieder aufzuwerfen, diesmal auf dem Gebiet des Mediums Video. Es erscheint mir interessant, besonders weil es in der ehemaligen DDR organisiert und veranstaltet wird. Die letzte Veranstaltung dieser Art, die ich besuchte, war ein Symposium bzw. Gespraech mit ost- und westdeutschen Medienkuenstlern 1990 in Leipzig. Dort wurde die Masse der Probleme vor denen der Osten steht vollkommen durch den Enthusiasmus westdeutscher Kuenstler bezueglich einer Institutionalisierung von Medienkunst in ihrem Teil Deutschlands verdraengt. Jetzt, da die Begeisterung fuer Medieninstitute in diesem Teil Deutschlands zunimmt und auch das Festival sich ueber die Rezession hinueberrettet, wird es vielleicht moeglich sein zu sehen, ob eine groessere Bereitschaft zum Teilen der Probleme da ist, ob die ganze Sache in vollem Umfang vom Osten und vom Westen diskutiert wird, oder ob es moeglich sein koennte, dass der Osten einen Vorteil gegenueber dem Westen haben koennte, z.B. indem in Osten Deutschlands allgemein zugaengliche Videoproduktionsplaetze geschaffen werden, wo Kuenstler entspannter arbeiten koennen, lernen, Informationen erhalten koennen oder vielleicht einfach Geraete fuer wenig Geld ausleihen koennen - einen solchen Ort gibt es naemlich in Westdeutschland nicht.

Sie koennten einwenden, dass Ostdeutschland doch ein besonderer Fall sei. Grundsaetzlich stimmt das, genauso wie jedes osteuropaeische Land (und jede Stadt) ein gesonderter Fall ist. Man muessten bei jeder Sichtung eines Videos ueber jedes einzelne Land sehr lange reden, da Video das Fenster zu einer ganzen Gesellschaft ist.

Ich werde hier ueber einige persoenliche Erfahrungen berichten, die ich bezueglich der Akzeptanz von Video als einer Kunstform in Osteuropa gemacht habe. Dieser Prozess scheint mir gut die vom Westen abweichenden Situationen in Osteuropa zu beschreiben.

Nachdem ich in Tokyo 7 Jahre mit Video gearbeitet hatte, waren die einzigen osteuropaeischen Videos, die ich bis 1987 kennengelernt hatte (ausgenommen jugoslawische Videos, die wie westliche Videos weltweit vertrieben wurden), die Videos aus "Infermental", dem internationalen Videomagazin, das 1980 von dem ungarischen Video- und Filmregisseur Gabor Body in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Polen und Berlin begonnen wurde. Hinter "Infermental" stand die Idee, ein Netzwerk von Kuenstlern zu schaffen. Video erwies sich als effizientestes Medium fuer dieses Netzwerk. Und da es ein Paket von hunderten von Arbeiten ist, kann es muehelos in jedes Land und zu allen Medien gebracht werden, also auch zu solchen Orten, an denen ein einzelnes Video vielleicht keine Chance haette, gezeigt zu werden. Es ist weder ein Wettbewerb, noch ein Festival. Es ist eine Enzyklopaedie, die alljaehrlich die Tendenzen der Videokunst praesentiert.

Spaeter begriff ich, wie wichtig das Projekt in Osteuropa war, wichtiger als ich auch nur im entferntesten angenommen hatte. In Tokyo schaetzte ich mich gluecklich, einfach die MOEGLICHKEIT zu haben, diese Baender aus Osteuropa sehen zu koennen. Spaeter wurde ich Co-Editor des "Infermental 8" (Tokyo Edition) und konnte noch mehr sehen; einen roten Stern, daneben noch einen, andere Symbole, minimalistische Performances... aber nur aus Ungarn und Polen.

Ungarn war das erste osteuropaeische Land, in dem ich ab 1988 lebte. Bald fand ich heraus, dass in diesem Land schon die gesamte Infrastruktur fuer die Untersuchung von Medien und ihrer Beziehung zur Kunst, zum Bewusstsein der Menschen und zu den sozialen Rahmenbedingungen existierte (*2) Als die ganzen Reformen begannen, liess ich mich sofort hier nieder. Mir schien es, als wuerde der Wandel auf dem Feld der Medien ruhig in den Haenden von Kuenstlern und Kunsthistorikern laufen. Es wurde ja auch schon ausfuehrlich besprochen, dass die Veraenderungen in Osteuropa in der einen oder der anderen Weise stark mit dem Medium des Fernsehens und dem Medium Video verbunden waren.

Der Hoehepunkt war die Revolution in Rumaenien, die erste Fernsehrevolution in der Geschichte. Dieses Ereignis wurde in Ungarn unverzueglich analysiert, sowohl politisch als auch kuenstlerisch. Als Ergebnis konnten wir in Budapest knapp drei Monate spaeter ein internationales Symposium zu diesem Thema organisieren, an dem zahlreiche ungarische Referenten mit diversen Standpunkten teilnahmen, sowie rumaenische Gaeste und Gaeste aus westlichen Laendern. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man sich der Tatsache bewusst ist, dass Videokunst in Ungarn in den fruehen 70'er Jahren begann und die Kuenstler - aufgrund der Existenz einer experimentellen Filmtradition und dank der im Vergleich zu anderen Laendern Osteuropas milderen Restriktionen im Bereich der Kultur - ueber genuegend Informationen verfuegten, anhand derer sie die Videokunst weiterentwicklen konnten.

Kuerzlich hatte ich die Gelegenheit, einer Auswahl rumaenischer Videoinstallationen fuer die erste Videoveranstaltung Rumaeniens (der fuer November 1993 geplanten EXOL - Ex Oriente Lux) beiwohnen zu duerfen, in der der Grossteil der 23 Bewerber ungarische Kuenstler aus Transsylvanien waren. Die Mitglieder der Auswahlkommission mussten sich letztendlich Sorgen machen, ob ueberhaupt eine rumaenische Arbeit unter den eingesandten Arbeiten war. Der Informationsaustausch war in Rumaenien ziemlich unausgewogen, d.h. dass ungarische Kuenstler in Transsylvanien normalerweise durch Kontakte und Fernsehausstrahlungen im benachbarten Ungarn und Jugoslawien leichteren Zugang zu Informationen hatten, die ihnen vielleicht groessere Sicherheit und Erfahrungen ermoeglichten. Diese Quellen waren fuer die Rumaenen nicht so leicht verfuegbar.

Trotz einiger sporadisch anzutreffender Arbeiten (welche man vielleicht waehrend dieses Festivals sehen wird) gibt es in Rumaenien noch keine explizite "Video-Kunst". Daher war es ein eher mutiges Unterfangen der Veranstalter, von diesem Stadium sofort zu einer Ausstellung von Videoinstallationen ueberzugehen... das koennte auch einer der interessanteren Aspekte dieses Landes sein.

Was Videoinstallationen betrifft, kann man die Entwicklung hin zum gegenwaertigen Boom anhand der Aktivitaeten der folgenden drei Institutionen nachzeichnen:

1. Soros Center for Contemporary Arts Nach dem Erfolg der Ausstellung von Videoinstallationen, die 1991 vom Center in Budapest organisiert wurde und sich als groesser als irgendeine andere Videoinstallationsausstellung, die jemals von einer einzigen Nation organisiert wurde, erwies (auch bezueglich der Anzahl von Videoinstallationen aus dem Land selbst), werden die anderen Zentren, die sich mittlerweile in fast allen Hauptstaedten Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion etabliert haben, in den kommenden Jahren dieselbe Ausstellung nacheinander zeigen (die oben erwaehnte rumaenische EXOL ist eine davon).

2. IMAGO - ein von MONTEVIDEO fuer "Gastspiele" vorbereitetes Paket niederlaendischer Videoinstallationen (der erste Versuch dieser Art), das auch in Osteuropa gezeigt wurde - bis jetzt in Ungarn, der Slovakei und Polen.

3. "Video Skulptur", die bis heute groesste internationale Ausstellung von Videoinstallationen, inspirierte ebenfalls Kuenstler und Historiker in dieser Region. Ausserdem hat die Tatsache, dass Video- bzw. Medieninstallationen in grossen internationalen Ausstellungen wie der Documenta oder der Biennale Venedig einen Aufschwung erleben, waehrend andere (traditionelle) Kunstformen eher schwerfaellig wirken, ein uebriges zur Beeinflussung der hiesigen Kunstszene getan.

Ueberhaupt lassen sich Informationen ueber Installationen in Form von Photos leichter vorlegen, als es Videobaender koennen. Daher koennen sie leichter als Bildende Kunst definieren werden (was hier von Vorteil fuer die osteuropaeischen Kuenstler sein koennte).

Vielleicht ist der Fall der Tschechischen Republik hier das relevanteste Beispiel, zumindest ist es das buchstaeblich dramatischste. Man denke nur an die Metamorphose Prags von totalem Schweigen und den strengen Restriktionen hin zu der am meisten besuchten Stadt der Welt und einer Masse von Westemigranten, die in der Stadt ein neues boehmisches Paradies suchen und finden.

Im Gegensatz zu Ungarn, wo die Grenze zum Westen relativ durchlaessige war und zu Polen (*3), wo ich immer sichergehen konnte, eine interessante Kunstszene einschliesslich Arbeiten von Videokuenstlern zu finden, die eine schroffe und kritische Position gegen die Autoritaeten bezogen, schlossen sich die tschechoslowakischen Kuenstler mit ihrem "passiven Protest" leise von der Aussenwelt ab. Daraus resultierend verfuegten wir nur ueber wenig Informationen zum aktuellen Stand von experimentellem Film und Video in der Tschechoslowakei. "Original Video Journal", das abweichlerische Videomagazin (1986 auf Initiative von Vaclav und Olga Havel begonnen) wurde heimlich auf Schulequipment editiert und kopiert. Immer, wenn ich fuer Kuenstler in Prag Videos mitbrachte, mussten wir uns nachts in die Videostudios der Sportabteilung schleichen. Dort fanden wir wunderbares Multi- Standars Equipment. (Ich wuenschte, dass ich in Ostdeutschland Zugang zu ebensolchen Orten gehabt haette. Dort muessen sie noch wunderbarer gewesen sein).

Der beruehmte Animationsfilmer und Illustrator Radek Pilar beschaeftigte sich seit 1987 mit Videokunst und versammelte eine Gruppe von Kuenstlern, um eine Videogruppe zu gruenden. Der "Video Salon" hatte 1989 seine erste Ausstellung mit vielen Videoscreenings und vier Videoinstallationen. Die Mitglieder hatten Zugang zu Informationen ueber Videoinstallationen, da eines der Mitglieder, Dr. Vancat, damals im Nationalen Kunstarchiv arbeitete und sich dort Photos von Arbeiten Nam June Paiks und Bill Violas befanden. Die Gruppe plante ihre zweite Ausstellung als die Revolution stattfand. Waehrend der Revolution draengten sich die Leute, um die vielen Fernsehmonitore sehen zu koennen, die in ganz Prag installiert worden waren und die die (angenommenen) wahren und aktuellen Informationen ueber die Ereignisse verbreiteten. Waehrend dieser Ereignisse stellte ein Kuenstler im Franzoesischen Institut seine Videoinstallation aus. Ich konnte diese Arbeit von Pavel Jasansky (welcher heute einer Multi-Media Journalisten gruppe angehoert) nicht anschauen, weil ich nicht durch die Menschenmassen durchkam.

Der Video Salon wurde auf Beginn 1990 verschoben und fiel kleiner aus als geplant; fand aber in einer euphorischen Atmosphaere statt. Die Gruppe zeigte das Videodokument ueber die Revolution, den vom Deutschen Fernsehen produzierten Fernsehdokumentarfilm ueber "Video Skulptur" (einige Mitglieder hatten diesen vom Fernsehen aufgenommen) und ihre eigenen Arbeiten. Auf einer Versammlung der Union der Kuenstler, bei der sich frueher Tausende von Kuenstlern versammelt hatten und Erlaerungen verlesen hatten, verkuendeten sie in einem Manifest die Geburt der tschechischen Videokunst.

Im Mai 1990 wurde im Zentrum von Prag die Ausstellung "Die Geschichte der Demokratie in der Tschechoslowakei" eroeffnet. Die Ausstellungshalle war in verschiedenen Sektionen unterteilt worden, in denen jeweils eine Installation um einen Monitor herum aufgebaut war. Die Videos zeigten verschiedene Dokumente, so z.B. die der Charta 77 und der STV (Tschechische Geheimpolizei). Dies waren die beeindruckendsten Videoinstallationen, die ich jemals gesehen habe. Fuer die ueber 200 000 Menschen, die diese Ausstellung besuchten, dienten sie nicht nur als Andenken an die Revolution, sondern waren wahrscheinlich auch die ersten Videoinstallationen, die sie jemals gesehen hatten.

Als 1990 der Fluxuskuenstler und Dekonstruktivist Milan Knizak zum Dekan der Akademie der Schoenen Kuenste in Prag gewaehlt wurde, wurden alle Professoren des alten Regimes entlassen. Er ersetzte sie, oeffnete mit Michael Bielicky, dem Schueler des Fluxus Kuenstlers Nam June Paik, ein Atelier fuer Videokunst und vollzog so seinen Ikonoklasmus gegen die Autoritaeten und die Hierarchien in Politik und Kunstgeschichte. Ein anderer provozierender, ehemals verbannter Performancekuenstler - Tomas Ruller - erhielt nach der Revolution ein Fernsehstudio an der Technischen Universitaet Brno und leitet dort ein Atelier fuer Video- und Multimediaperformance. Fuer ihn erwies sich Video auch als das effektivste Medium. Woody Vasulka, Bielicky, Petr Vrana, Standa Miler, Vaclav Kucera - alle begannen ihre Karriere mit Video nachdem sie in den Westen emigriert waren. Diese Kuenstler kommen jetzt zurueck um in ihrer Heimat einen Beitrag zur Kunst zu geben.

Das Beispiel der Tschechoslowakei (heute: Tschechische und Slowakische Republiken) kann den Lesern einen Eindruck des vorherrschenden Optimismus in der osteuropaeischen Medienszene geben. Ich moechte jedoch mit zwei Warnungen schliessen:

Erstens muessen wir uns der gefaehrlichen Lage des Fernsehens in Osteuropa bewusst sein, besonders in Ungarn, der Slowakei, Rumaenien und im ehemaligen Jugoslawien. Unabhaengiges Video hat immer mit dem Fernsehen gerungen, war Verfechter einer kritischen Position und verkoerperte einen alternativen Standpunkt. Diese Stellung muss aufrechterhalten werden, um gegenueber der gegenwaertigen unheilschwangeren Situation kritisch zu bleiben.

Zweitens: das ehemalige Jugoslawien war, mehr als die anderen Laender Osteuropas, ein 'Videoparadies' - auch verglichen mit westlichen Standards. Das hat sich jetzt geaendert. Ausser Kuenstlern aus dem ehemaligen Jugoslawien kenne ich fast anderen keine Kuenstler, die sich mit denen in der Mitte Europas stattfindenden "ethnischen Saeuberungen" beschaeftigen. Journalisten schon, aber nicht Politiker und Kuenstler. Als osteuropaeischer Kuenstler, der sich fragt, was denn die Stellung westlicher Kuenstler zu dieser Frage ist, kann man nur denken, dass diese entweder Feiglinge sind oder fest entschlossen sind, in einer komfortablen Nekropole zu leben. Die Videogemeinschaft muss sich darueber im Klaren sein, dass wir alle die "ethnischen Saeuberungen" zugelassen haben, indem wir nichts dagegengesetzt haben; dass der Krieg sich ausbreiten wird und auch uns noch in der Zukunft heimsuchen wird.

____________________ *1 Ich gebrauche die Bezeichnung "Osteuropa", bzw. "Osten" hier nur der Einfachheit halber. Sie schliesst den ehemaligen Ostblock mit Ausnahme der Ex-Sowjetunion ein.

*2 Seit 1987 gibt es in Ungarn auch eine regelmaessige Fernsehsendung ueber Video-und Medienkunst. Sie heisst "Video Welt" und wird von Judit Kopper vom Ungarischen Fernsehen produziert. Etwas Vergleichbares gibt es im restlichen Europa nicht. Das Bela Balazs Studio (BBS) ist ebenfalls ein einzigartiger Ort fuer experimentellen Film / Video, wo viele Kuenstler seit 1961 Arbeiten produziert haben (Video seit den 70'ern). Der neueste Ort dieser Art ist die Intermedia-Abteilung an der Akademie der Schoenen Kuenste in Budapest, die von Laszl¢ Beke, Mikl¢s Peternak und Janos Sugar, der fuehrenden Medienkunstgruppe des Landes, geleitet wird.

*3 Die Geschichte von Videokunst in Polen hat schon Mitte der 70'er Jahre mit der Entstehung der experimentellen Film Bewegung in und um L¢dz begonnen. Weitere Informationen zur Situation der polnischen Videokunst sind dem Text von Ryszard W. Kluszczynski zu entnehmen.