Die Wieder-geburt von Ostranenie

Ostranenie als die Verfremdung von Idealen, Normen, Utopien, als unsere Verschanzung in der Zeit des Post- und Neo-Post- Modernismus, Post-Mythos, Post-Sozialismus, Neo-Konservativismus, Neo-Formalismus, Neo-Stumpfsinnes. Eine neue Weltordnung, in der Konflikte zu (Subtilitaeten) werden, die sich im Dschungel von Definitionen und Prioritaeten verlieren; Konflikte, die nicht laenger von den simplizistischen Uebeln des bipolaren Konfliktes bedroht werden, sondern nur noch dem Einfluss der Lobbies und deren sich staendig aendernden Interessenbereichen unterworfen sind. Plastik wird zum Designerethos und zum Fluch der Verbraucher; eine Welt in der wir voller Sehnsucht das Reale zu kaufen suchen und Waerme und Geborgenheit in unserem Zuhause zu finden meinen, indem wir unsere Wissbegierde durch das Drama, den Schmerz, die Freuden und den Schrecken konstruierter Interpretationen auf dem flimmernden Bildschirm stillen; Interpretationen sehen und fuehlen, die von meter- oder meilenweit entfernt gesendet werden, alles live aber nicht unbedingt wirklich.

Ostranenie als abgepacktes Simulacrum all dessen, was das Gedaechtnis als elegant und essentiell gespeichert hat; unnoetig es zu analysieren, neue Grundlagen darauf zu erbauen; unnoetig, auf effektive Weise Art und Weise den Willen zu bilden, neue Ordnung zu schaffen. Ostranenie als Verkoerperung des Kampfes der Individuen und Gesellschaften, die bei ihrem Versuch der Neuordnung, Neudefinition und Neuorientierung entlang erkannter Grenzen sich verbliebener Fehler nicht bewusst sind. Ostranenie bedeutet die Neuordnung der Kommunikationswege, die das Ziel unserer sich rasch entwickelnden Gesellschaft darstellt und zwingt uns, die Praegung, die wir ihr gegeben, in Frage zu stellen, sei es bezueglich der Architektur, der Kunst, der Wissenschaft oder schlicht bei der Entscheidung, wie man sich der Allgemeinheit praesentiert, auf der Basis der Notwendigkeit, sich des Vorhergehenden bewusst zu sein - sei es, dass wir es akzeptieren oder gegen es rebellieren. Ostranenie als die Unsicherheit bei der Darstellung oder Formulierung des Unbekannten, bei der Festlegung von Bezugspunkten, bei der Foerderung von Diskussionen und Dialog.

Sowohl unser Risiko als auch unser Ziel im Bauhaus des (neuen? oder wiedergeborenen oder neo-) deutschen Bundeslandes Sachsen- Anhalt besteht im November darin, neue Mitspieler an den Globalen Medientisch zu setzen. Wir richten unser Augenmerk auf Mittel- und Osteuropa, da die Kuenstler, Medienmacher und Former des kollektiven Bewusstseins eine breitere Plattform eines Europas betreten, das sich auf dem Weg zu einer neuen, zoegernden, materiell orientierten Vereinigung vorwaertskaempft: eine neue Wirklichkeit, die auf der Geschwindigkeit der globalen Kommunikation und auf dem Wettbewerb gegruendet ist, wobei eine wachsende Unsicherheit das alte System mehr und mehr durchdringt, waehrend das neue System, das jetzt im Werden begriffen ist, sich mueht, die Stabilitaet des alten zu erlangen.

OSTRANENIE 93 wurde gut drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ins Leben gerufen. Jetzt, da die Euphorie und die darin verkoerperte Hoffnung, die schon seit langem verschwunden ist, nur noch eine verblassende Erinnerung einer Nachrichtenmeldung darstellt und nun der nuechternen Erkenntnis gewichen ist, dass die Freiheit selbst nicht utopischer ist als die von Lehrbuchideologien entfachte und nunmehr zerstoerte Begeisterung.

Wir heissen alle Kuenstler sowie all jene, die in der Welt des Videos und der elektronischen Medien arbeiten oder sie konsumieren, zu diesem ersten internationalen Videofestival mit dem Motto "Zerstoerte Mythen und neue Realitaeten" in Dessau willkommen, um an der Widerlegung des ueberkommenen Vorurteils der ideologischen Grenzen mitzuarbeiten, so dass die Hauptorientierungsachsen - Nord und Sued, Ost und West - eines Tages wieder zu geographisch gleichwertigen Bezeichnungen werden koennen.

Stephen Kovats Leiter des Festivals