Uebersetzung des Textes von CULTURAL CHANGES AND VIDEO VENTURES IN EASTERN EUROPE

KULTURELLE VERAENDERUNGEN UND HERAUSFORDERUNGEN IM VIDEOBEREICH OSTEUROPAS

Nina Czegledy (CAN/H)

Fuer das westliche Auge erscheint die Welt oestlich von Wien immer noch exotisch und einheitlich. Diese Sichtweise herrscht - trotz ausfuehrlicher Medienberichterstattung ueber Aufstaende, Revolten, broeckelnde Grenzen und die politischen und wirtschaftlichen Metamorphosen der gesamten Region - immer noch vor. Die gegenwaertige Unruhe hat - auch fuer den uninformieren Beobachter - ein vormalig formloses Territorium durch eine Vielzahl von Nationen, Religionen, Sprachen und Kulturen unterschiedlicher Bestrebungen ersetzt. Um sich dieser Unterschiede sowie der Re- etablierung ethnischer Kulturidentitaeten bewusst zu werden, ist eine gemeinsame Anstrengung sowohl der unmittelbar Betroffenen sowie des Westens von Noeten.

Die gegenwaertigen kulturellen Transformationen sind durch den extremen wirtschaftlichen Verfall ausgeloest worden. Das wiederum fuehrte zu einem kulturellen Prozess, der in seiner Entfaltung grosse Spannungen in dieser sich schnell wandelnden Region ausloeste. Das Denken, die Arbeit und die Kunst wurden von diesen Entwicklungen tief beeinflusst, besonders diejenigen Kunstformen, die noch im Prozess ihrer Entfaltung sind. Nicht zuletzt ist die gegenwaertige politische Kultur einem staendigen Wandlungsprozess unterworfen, der die Suche nach neuen Definitionen noetig macht.

Distanz zum politischen Establishment war ein wesentliches Merkmal im Leben osteuropaeischer Kuenstler, besonders derjenigen, die sich mit experimentellen Kuensten beschaeftigten. Kunst und Kuenstler politisierten sich - ueber die Jahre der Repression hinweg - allein durch den Akt des Ausstellens oder der Aktion. Die Frage der nationalen und der kulturellen Identitaet, in der die Beteiligung der Kunst eine sich permanent wandelnde Rolle innehat, ist bis zum heutigen Tag ein Objekt staendigen Interesses und kontinuierlicher Untersuchung.

Im Westen war das Wissen ueber progressive Kunst aus Ostmitteleuropa ueber Jahrzehnte auf solche Formen wie die Samizdat-Literatur, -Musik und bestimmte Filme beschraenkt. Auf der anderen Seite erreichten die visuellen Kuenste oder Multimediaarbeiten durch erschwerte Transportmoeglichkeiten erst relativ spaet ein breites Publikum. Junge Kuenstler bemuehten sich, mit dem Aufkommen neuer Trends fertigzuwerden und haben sich teilweise in einen neuen Traditionalismus hineinmanoevriert. Heute stellt sich fuer die Menschen aus Ostmitteleuropa, die frueher mit einer gewissen Naivitaet gen Westen schauten, eine neue Schwierigkeit. Es wird immer klarer, dass der Westen und seine Marktwirtschaft ihren eigenen Preis fordern. Letztendlich sehen sich Kuenstler vor Problemen - aehnlich wie im Westen - z. B. der Unterscheidung/Differenzierung zwischen von Wahrheit, dem Realen und der Hyperrealitaet. Die Geschwindigkeit und der Grad der Veraenderungen korrespondiert direkt mit dem Ausmass westlichen Einflusses in der juengsten Vergangenheit.

Trotz der Schwierigkeiten, die bei der Anpassung an eine "neue Welt" auftreten, hat die liberale Atmosphaere beispiellose Entwicklungen in ganz Mittel- und Osteuropa, besonders auf dem Gebiet der Medienkunst, ermoeglicht. Diese Veraenderungen wurden hauptsaechlich durch bemerkenswerte Einzelpersonen initiiert, nicht so sehr durch Regierungpolitik. Medienkunst, die unter kommunistischer Herrschaft eindeutig abweichlerisch war, kann als Barometer fuer die gesamte Region waehrend der Turbulenzen des letzten Jahrzehnts dienen. Trotz der diametralen Opposition zum, und der Repression durch das Regime haben die Kuenstler ihre Integritaet bewahrt und haben weiterhin anregende, dynamische und oft provozierende Arbeiten geschaffen. Restriktionen auf dem Gebiet der Kultur hingen stark von der politische Zeit und dem Ort ab. So wurden waehrend der Zeit des Kriegsrechts in Polen illegale Filme und Videos mit minimaler Ausruestung gemacht, waehrend zur selben Zeit im "freien" Jugoslawien eine liberale Fernsehgesetzgebung zur Entwicklung von hohen kuenstlerischen und technischen Standards beitrug. Trotz der Eintoenigkeit der zentralistischen geo-kulturellen Herrschaft Russlands, das versuchte, eine Homogenisierung des kuenstlerischen Ausdrucks durchzusetzen, haben Film- und (seit kurzem auch) Videokuenstler zutiefst satirische und oft sehr heftige Werke geschaffen.

Innerhalb dieses Patchworks der Kulturen, das im allgemeinen "Osteuropa" genannt wird, kann die Videokunst auf eine ungleichmaessige Geschichte zurueckblicken, die von Land zu Land verschieden ist, sich taeglich veraendert und natuerlich auch vom jeweils verfuegbaren Stand der Technik abhaengig ist. Kommunikation bleibt nach wie vor ein Problem; die Teilnahme an allen stattfindenden Events in dieser Region ist zur Zeit mehr Traum als Wirklichkeit. Folglich ist es extrem schwierig, ein homogenes Bild nachzuzeichnen - einige meiner persoenlichen Erfahrungen (sozusagen aus 'Vogelperspektive') sind alles, was ich anbieten kann. Obwohl die folgenden Ereignisse erst in den letzten paar Jahren gesammelt wurden, erscheinen einige - wegen der rapiden gegenwaertigen Veraenderungen - schon wie weit zurueckliegende Geschichte.

UNGARN Die Kulturpolitik im kommunistischen Ungarn schloss Konzeptkunst oder experimentelle Kunst nicht mit ein. Deswegen wurden viele Medienkuenstler auf "schwarze Listen" gesetzt. Deshalb waren die "neuen Medien" auch nur in den unmoeglichsten Orten anzutreffen. Mitte der 70'er Jahre wurde von den Konzeptualisten Miklos Erdely und Dora Maurer in Ganz Mavag, einem industriellen Fabrikkomplex in Budapest, die Vorlesungsreihe "Kreativitaet / Visualitaet", eine Serie von Vortraegen ueber kuenstlerisches Bewusstsein, abgehalten. Erdely hatte einen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung der neuen Medien in Ungarn. Meine beeindruckendsten Erinnerungen an die experimentelle Filmszene sind untrennbar mit dem Bela Balasz Studio und der Person Miklos Erdelys verbunden.

Ab Ende der 70'er Jahre waren die Bela Balasz Studios (BBS) ein idealer Arbeitsort fuer alternative Filmemacher. BBS wurde von Hungarofilm finanziert. Hier hatten ungarische Kuenstler die Moeglichkeit, Filme - und in der letzten Zeit auch Videos - zu produzieren. Viele dieser Arbeiten wurden trotzdem zensiert, in Regale verbannt und somit niemals oeffentlich gezeigt. So entstand eine paradoxe Situation, in der die interessantesten alternativen Filme - von lyrischen bis zu streng konzeptuellen Arbeiten - allesamt zu Staubfaengern in den Archiven der BBS wurden. Dank der Kooperation eines hilfsbereiten Filmvorfuehrers konnten jedoch einige Filme privat gezeigt werden. So hatte ich zum ersten Mal die Moeglichkeit, Erdelys Filme zu sehen.

Der provozierende Miklos Erdely war ein legendaerer "Dissidentenkuenstler" in Ungarn. Zusaetzlich zu dem ausgedehnten Korpus von Photographien, Collagen, Zeichnungen und Essays hat er auch wichtige experimentelle Filme (fuer die Regale der BBS) gemacht. Ich erinnere mich lebhaft an die Gelegenheiten, bei denen ich zusammen mit Erdely (strahlend mit seiner fantastischen schwarzen Federboa und seinem schwarzen Umhang) mit grossem Staunen einige seiner Filme anschaute.

Mikl¢s Peternak, Film- und Videotheoretiker, Autor, Dozent und Videokuenstler, spielte auch eine einzigartige Rolle in der entstehenden "Neuen Medien"-Landschaft Ungarns. Durch seine systematischen Untersuchungen der Beziehungen zwischen Bild, Photographie, Film, Video und Computerkunst erhellte er allgemeine Theorien und dokumentierte die Aspekte der elektronischen Kunst Ungarns. Heutzutage haben ungarische Videokuenstler durch die BBS Zugang zu Weiterbildung, Informationen und neuen Technologien. Die Filme haben die Regale verlassen und werden zusammen mit neuen Kompilationen weltweit gezeigt. Die groessten politischen, sowie wirtschaftlichen als auch kulturellen Umbrueche fanden genau zu der Zeit statt, in der in Ungarn die Videokunst gerade begann, sich durchzusetzen. Jedoch werden diese Veraenderungen selten direkt dargestellt; Kuenstler druecken ihre persoenlichen Ueberzeugungen auf eine subtilere Art und Weise aus.

POLEN

kann auf eine lange Geschichte des experimentellen Filmemachens zurueckblicken - die ersten Ansaetze gehen zurueck bis in die 20'er Jahre dieses Jahrhunderts. Fuenfzig Jahre spaeter, in der Mitte der 70'er Jahre, produzierte eine kleine Gruppe von Kuenstlern - unter ihnen Wojciech Bruszewski und J¢zef Robakowski - die ersten konzeptuellen polnischen Videoarbeiten. In den 80'ern brachte eine neue Generation die Videokunst zu einer neuen Bluete.

Ich reiste 1989 durch Polen. Der Kontrast zwischen den Schwierigkeiten des taeglichen Lebens und dem optimistischen Geist der Polen (der einen Unterton von Verzweiflung beinhaltet) war genauso faszinierend wie schwer zu beschreiben. Diese Geisteshaltung war in der Ausstellung "Lochu Manhattan (Keller von Manhattan), Die Kunst Anderer Medien" im Mai desselben Jahres klar zu erkennen. Es war die erste groessere internationale Veranstaltung, die von J¢zef Robakowski nach Aufhebung des Kriegsrechtes organisiert wurde. Jede(r), der auch nur entfernt mit zeitgenoessischer Kunst in Polen zu tun hatte, sprach ueber diese Veranstaltung und reiste nach L¢dz, um den einen Monat dauernden Multi-Media-Aktivitaeten beizuwohnen. Das Ziel dieser Veranstaltung war die Praesentation neuer Trends und anderer Formen alternativer Kunst verschiedener Generationen.

Plakate bedeckten die grauen Zementwaende im Asphaltdschungel der Tuerme von "Lochu Manhattan". Im Inneren der schwach erleuchteten riesigen Tiefgarage waren massive Skulpturen, grossformatige Bilder, komplizierte Installationen, Videos und eine Reihe von Photographien zu sehen. An einem Nachmittag wohnte ich der Videoinstallation/Performance von Izabella Gustowska in "Lochu Manhattan" bei. Diese Installation war ueberzeugend durch die Uebermittelung einer Botschaft mit vollkommen improvisierter Technik. Gustowska sprach ueber die weibliche Beschaeftigung mit dem Thema des Vergehens von Zeit, des Vergehens der Jugend und dem bevorstehenden Tod. Die Installation enthielt auf Glas aufgezogene, kolorierte Fotografien weiblicher Figuren. Gustowska stand vor einem Spiegel - in Wirklichkeit ein Monitor, der ihr Bild in diesem "Spiegel" abbildete. Auf anderen Monitoren wurden Baender gezeigt, die das Vergehen von Zeit und das Sterben durch Bilder von rotem Sand und fliessendem Wasser thematisierten - und wohin man schaute waren Kabel, Kabel, Kabel...

Individuelle Initiativen sind der Hauptfaktor in der Entwicklung Neuer Medien in Mitteleuropa. Die Schluesselfigur fuer die polnische Videokunst war Ryszard Kluszczynski, der neben seiner Taetigkeit als Dozent an der Universitaet Lodz und seinen Veroeffentlichungen ueber Film und Video das erste Videozentrum in Polen gegruendet hat. Er war Kurator mehrerer polnischer Programme fuer internationale Festivals und organisierte 1991 das erste Warschauer Videofestival. Natuerlich gab und gibt es auch andere Videoaktivitaeten in Polen, wie z.B. das WRO Sound Basis Visual Art Festival, das jaehrlich in Wroclaw stattfindet.

RUSSLAND

Nichts ist gewoehnlich, wenn wir uns der russischen Videokunst zuwenden. Daten, Namen, Titel oder technische Beschreibungen fuehren in die Irre, zumindest wenn man an die Petersburger oder die Moskauer Videoszene und deren Geschichte denkt. Nehmen wir z.B. den Videokuenstler Juris Lesznyik, dessen Gruppe sich in einem ehemaligen Palais in der Naehe der Eremitage in Petersburg eingerichtet hat, einem Ort, der gross genug ist um Ausstellungen, Screenings oder Parties zu organisieren. 1991 bestand sein Studioequipment aus einem Monitor in einem vergoldeten Barockrahmen, einer Video8 Kamera und zwei VHS Recordern. Hier produzierte er Pirate TV, das an verschiedenen Orten - einschliesslich des (ehemaligen) Leningrader Fernsehens - gezeigt wurde. Fuer anspruchsvollere Ereignisse nutzte Lesznyik die riesige Projektionswand des Planetariums. Es war ein seltsamer Anblick: die tanzende "goldene Jugend" St. Petersburgs unter Lesznyiks unglaublichen Videoprojektionen.

Ein anderes Beispiel sind Boris Juhananovs Galerie Orangerie und die Freie Akademie in Moskau. Die Freie Akademie wurde in den unterirdischen Raeumen eines typisch trostlosen Moskauer Wohnhauses untergebracht. Aber es gab dort einen Hof, bewachsen mit duerren Baeumen und genug Platz fuer die glaeubigen Schueler um zu ueben, auszustellen, aufzutreten, zu debattieren und, wenn noetig, zu schlafen. Die Orangerie wurde fuer verschiedene Ausstellungen, Videoinstallationen und Videoperformances mehrmals umgebaut. Juhananovs Schueler haben waehrend einer Zeit von ueber zwei Jahren unablaessig Tschechovs "sich-selbst-entwickelnden" Kirschgarten aufgefuehrt und dies auch staendig mit einer Videokamera dokumentiert. Es ist ein erstaunliches Band.

Und dann gibt es die legendaeren Brueder Alejnikov, die trotz Zensur und schwarzen Listen einen ganzen Fundus von sehr uebermuetigen und satirischen No-Budget-Filmen produziert haben. Sie gehoeren mit zu den Begruendern der Bewegung des Parallelen Kinos, die 1987 als unabhaengige Bewegung ausserhalb der zentralisierten Filmindustrie gegruendet wurde. Sie organisierten das erste unabhaengige Film- und Videofestival in Moskau. Seit kurzem dehnen sie ihre Taetigkeit auch auf den Spielfilm aus.

Das elektronische Medium Video und folglich auch die Videokunst ist geladen mit Widerspruechen und Komplexitaeten. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Videokuenstlern, die sich auf ihr Medium spezialisieren, kommen viele Videokuenstler Osteuropas aus den verschiedensten Schulen. Sie leben und arbeiten mit diesem Medium, aber sind nicht strikt an es gebunden. Nichtsdestotrotz reflektiert die "Videolandschaft" der vergangenen paar Jahre klar die sich wandelnde Welt Ostmitteleuropas - trotz der begrenzten Ressourcen ist es hier fast unmoeglich, mit den neuen Entwicklungen Schritt zu halten. Die Hoffnung fuer die Zukunft liegt in den Visionen und der Ausdruckskraft der engagierten Medienkuenstler in den Weiten der Videolandschaft oestlich von Wien.

Nina Czegledy (Juli 1993)